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Parteienverdrossenheit: Gründe für ein politisches Phänomen

Warum haben die Parteien im Laufe der Jahre so an Vertrauen verloren? Der zweite Teil der Serie über das deutsche Parteiensystem beschäftigt sich mit den unterschiedlichen Gründen. Drei Ebenen werden schlaglichtartig beleuchtet: 1. die Parteien, 2. die politischen Rahmenbedingungen und 3. die Gesellschaft und ihre Entwicklung.

1. Die Parteien: Handlungsbedarf bei Personal, Partizipation und Problemlösungskompetenz

Eine der wohl populärsten Erklärungen für Parteiverdrossenheit sind die in den Medien behandelten Fälle von Ämterpatronage, Finanzskandalen und Oligarchie in der innerparteilichen Demokratie. Die Bürger leiteten aus diesen Ereignissen ab, dass Parteien und ihre Führungseliten ohne Skrupel zur persönlichen Vorteilnahme und zugunsten der eigenen Klientel handelten. Intransparente Absprachen über zu besetzende Ämter in Politik, Wirtschaft und öffentlichen Dienst und selbst beschlossene Steigerungen der finanziellen und materiellen Zuwendungen an Politiker lassen den Staat für die Bürger wie eine unerschöpfliche Einnahmequelle für Parteien und Politiker erscheinen – egal ob dem tatsächlich so ist oder nicht. Jüngstes Beispiel ist die Beschäftigung von Verwandten in Büros von bayerischen Landtagsabgeordneten.

Eine Folge solcher Geschehnisse ist die Resignation der Wähler über die Parteien und ihre Vertreter. Der so entstehende „Verdruss mit den Politikern“ (Scheuch/Scheuch, S.36) weitet sich auf die Parteien aus. Die Wähler attestieren ihnen Versagen bei der Rekrutierung von fähigem Führungspersonal und wenden sich ab. Vor allem der Typ des Berufspolitikers wird in Frage gestellt, der in den Augen der Bevölkerung aus Politskandalen zumeist relativ ungeschoren davonkommt. Die Ansicht, ein kurzweiliger Karrierestopp sei das einzige, was der Berufspolitiker bei einer Politaffäre zu befürchten hätte, verstärkt die Distanzierung der Bürger zusätzlich.

Die unerfüllte Erwartungshaltung der Bevölkerung, von den Parteien Lösungen für die herrschenden Probleme und Krisen zu erhalten, führt zu einer politischen Verunsicherung. Aufgrund der als gering wahrgenommenen Handlungsbereitschaft der Parteien bei erscheint es dem Bürger, Parteien hätten wenig Durchsetzungsvermögen und reagierten auf Probleme eher mit Handlungs- und Kompromissunfähigkeit sowie gegenseitigen Schuldzuweisungen als mit dem gebotenen Ernst. Laut Wiesendahl haben sich Parteien zu einer Projektionsfläche entwickelt, an der sich der angestaute Unmut und die allgemeine perspektivlose Unzufriedenheit der Bevölkerung entlädt.

Das Engagement in Parteien ist für viele Bürger unattraktiv. Wiesendahl stellt einen regelrechten „gesellschaftlichen Anerkennungsverfall“ (Wiesendahl 2011, S.22) des Parteiengagements fest. Daneben erscheinen die Gestaltungsmöglichkeiten von ehrenamtlichen Parteiaktiven begrenzt. Oberhalb der Ortsvereinsebene – in den Ebenen der Berufspolitiker – mangelt es ihnen an ernsthaften Gestaltungsperspektiven. Diese Aussichten des parteipolitischen Engagements schreckt viele politisch Interessierte ab. Parteienverdrossenheit erscheint eher als ein kritisch-unzufriedenes Abwenden als ein Infragstellen der etablierten Parteien.

2. Strukturellen Rahmenbedingungen: Mehrebenen-Stuktur und Legitimationsbasis

Die föderale Struktur Deutschland führt dazu, dass Entscheidungen und Positionierungen der Parteien nicht immer von den Bürgern klar zugeordnet werden können. Parteien handeln auf kommunaler, Landes- und Bundesebene schon mal unterschiedlich. Zudem setzen sich die Landesverbände (bewusst) von der Bundespartei ab.

Die Parteien weisen zwar eine relativ geringe Verankerung in der Bevölkerung auf, verfügen jedoch über großen Einfluss – beispielsweise bei der Regierungsbildung oder richtungsweisenden Entscheidungen. Dieses Missverhältnis zwischen Machtanspruch und geringer Basis wird von der Gesellschaft kritisch wahrgenommen.

Eine breite Palette von alternativen Partizipationsformen hat sich gebildet. Schicha stellt fest, dass NGOs und soziale Bewegungen bei Jugendlichen mehr Glaubwürdigkeit und Akzeptanz als Parteien genießen. Heranwachsende – die Wähler von Morgen – engagieren sich verstärkt in diesen Organisationsformen. Und auch viele gesellschaftspolitisch interessierte Erwachsene bringen sich in Bürgerinitiativen, Umweltverbände und soziale Projekte ein. Die Bürger können ihr Bedürfnis nach gesellschaftlicher Beteiligung in diesen Organisationsformen anscheinend besser wahrnehmen als in den Parteien.

3. Die Gesellschaft: Gesellschaftliche Umbrüche verwischen politische Grenzen

Die Relevanz gesellschaftspolitischer Debatten und Auseinandersetzungen nimmt mit der Erosion traditioneller Wähler- und Gesellschaftsmilieus ab. Die Parteien verlieren deswegen für große Teile der Gesellschaft an Bedeutung: Die Konfliktlinien, die die Entstehung und Etablierung von Parteien im 19. und 20. Jahrhundert maßgeblich geprägt haben, wandeln sich. Seit 1960er Jahren kommt es zu einer Verschiebung von materialistischen zu postmaterialistischen Werten, die immer weitere Bevölkerungsteile erfasst. Die Parteien mussten und müssen sich diesem Phänomen stetig anpassen. Sie wurden und werden teilweise von den gesellschaftlichen Umbrüchen überholt.

Die zunehmende Individualisierung erschwert zusätzlich die dauerhafte Bindung zwischen Wähler und Partei. Damit verbunden ist auch ein häufigerer Wechsel der Beweggründe, die eine oder andere Partei zu wählen. Der Wertewandel in der Gesellschaft führt nach Wiesendahl in eine „Modernitätsfalle“ (Wiesendahl 1992, S.13) Die Hinwendung der Parteien zu neu entstandenen Wählergruppen führt zu einer Verdrossenheit der traditionellen Wählerschaft, während sich die neuen postmaterialistischen Wählerschichten sich nicht genug von den Parteien beachtet fühlen. So versuchen die Parteien eine Mittelposition zwischen den beiden Gruppen einzunehmen, die allerdings Verdrossenheit bei Teilen der Stammwähler hervorbringt und die Unzufriedenheit auf Seiten neuer Wählergruppen nicht vollständig auflösen kann. Die Parteien werden für Außenstehende austauschbar: Klar zuordbare Positionierungen werden seltener. Politik und Medien sprechen zunehmend vom „Verlust des Markenkerns“.

Die Politikwissenschaft erkennt auch einen Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Lage und Verdrossenheit: Ein Erklärungsansatz besagt, dass wenn Wähler die eigne ökonomische Lage und den allgemeinen Wirtschaftstrend positiv bewerten, die Befürwortung zu den Parteien steige. Die Parteien verlören allerdings das ihnen entgegen gesetzte Vertrauen, wenn die wirtschaftliche Situation negativ bewertet werde. Parteienverdrossenheit ist somit zu einem Teil mit den ökonomischen Zustanden des Landes verbunden und wie diese von den einzelnen Bürgern individuell empfunden werden. Ein zweiter Ansatz hebt den Zusammenhang zwischen der Wirtschaftslage während der Sozialisation und dem späteren politischen Verhalten hervor.

Exkurs: Politische Kommunikation der Parteien 

Die Kommunikation der Parteien kämpft mit ihrem Image. Ein paar Einblicke:

Mit der Intensivierung der Vermittlung politischer Inhalte über die Medien seit den 1970er Jahren erhielten die Wähler keinen tieferen Einblick in die Entscheidungsprozesse. Nach Wiesendahl schufen die Parteien eine „Pseudotransparenz des politischen Geschehens“ (Wiesendahl 1992, S.12). Das Ziel der Mediennutzung sei nicht die Einbeziehung der Wähler, sondern die Stimmenmaximierung. Die Integration der Bürger finde nur einseitig statt.

Der Einfluss der Medien ist gewachsen: Sie bestimmen die politische Agenda mit. Insbesondere bei politischen Großereignissen stehen Spitzen(berufs)politiker im Fokus – was auch begrenzten Sendezeiten geschuldet ist. Reguläre Parteimitglieder erscheinen mehr als Beiwerk, was politisch Interessierte entmutigt. Parteien und Politiker müssen ihre Kommunikation der schnelllebigen Medienberichterstattung anpassen. Ergebnis: Schlagwortartige Botschaften statt tiefgehende Debatten. Der politische Schlagabtausch verlagert sich in Talkshows, wo die Zuschauer wenig Neues erfahren. Medien und Politik sind hierbei nicht allein zu betrachten: Die Bürger sind als Medienkonsumenten ein gewichtiger Faktor dieser Entwicklung.

Der ehemalige SPD-Spitzenpolitiker Hans Apel merkte in den 1990er Jahren kritisch an: „Stadtteilbüros, Sprechstunden, Bürgertelefone, Gespräche mit den gesellschaftlichen Gruppen haben weniger die Aufgabe, den Wähler mit seinen Sorgen und Ansprüchen in die Partei zu holen, als ihn von der Richtigkeit der eigenen Position zu überzeugen.“ (Apel, S.49f.).

Die Parteien arbeiten an den Schwächen ihrer politischen Kommunikation. Jedoch können Maßnahmen wie Mitgliederkonvente oder Dialog-Plattformen zu Wahlprogrammen das über Jahre entstandene Negativimage nicht kurzfristig aufbrechen.

Der Politologe Oskar Niedermayer kommt in einer jungen Untersuchung zu folgendem Ergebnis: Zwar übt die Bevölkerung differenziert Kritik an den Parteien, jedoch rund die Hälfte der Parteiverdrossenen würde zur Bundestagswahl gehen. Die Bürger stehen weiterhin zur Institution „Partei“. Und die Parteien reagieren auf den Unmut der Bevölkerung. Der nächste Teil beschäftigt sich mit unterschiedlichen Strategien und Maßnahmen, die Bürger mehr in die politische Arbeit einzubinden.

Literatur

Apel, Hans: Die deformierte Demokratie. Parteienherrschaft in Deutschland, Stuttgart 1991.

Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hg): Wandel politischer Orientierungen und gesellschaftlicher Werte der Studierenden Studierendensurvey: Entwicklungen zwischen 1983 und 2007. Berlin/Bonn 2008.

Boher, Sylvia: Parteienverdrossenheit: Ursachen und Lösungsstrategien. München 1996.

Dittberner, Jürgen: Die deutschen Parteien: Defizite und Reformideen, in Aus Politik und Zeitgeschichte B40/2004, S. 12-18.

Inglehart, Ronald: Kultureller Umbruch. Wertwandel in der westlichen Welt, Frankfurt-Main/New York 1989.

Niedermayer, Oskar: Keine Parteienverdrossenheit, aber Parteienkritik: die Bürgerorientierungen gegenüber den Bundestagsparteien, in: Niedermayer, Oskar/Höhne, Benjamin/Jun, Uwe (Hgg.): Parteien in der Gesellschaft, Wiesbaden 2013. Online unter: http://www.polsoz.fu-berlin.de/polwiss/forschung/systeme/empsoz/mitarbeiter/niedermayer/lehre/Parteienverdrossenheit.docx?1373286066 (Abruf am 18.08.2013).

Rudzio, Wolfgang: Der demokratische Verfassungsstaat als Beute der Parteien? Parteienkritik als Krisenelement. In: Gellner, Winand/Veen, Hans-Joachim (Hgg.): Umbruch und Wandel in den westeuropäischen Parteiensystemen. Frankfurt am Main 1995.

Rattinger, Hans: Abkehr von den Parteien? Dimensionen der Parteiverdrossenheit, in Aus Politik und Zeitgeschichte B11/1993, S.24-35.

Scheer, Hermann: Parteien kontra Bürger? Die Zukunft der Parteiendemokratie. München 1979.

Scheuch, Erwin K./Scheuch, Ute: Cliquen, Klüngel und Karrieren. Über den Verfall der politischen Parteien – eine Studie, Reinbek bei Hamburg, 1992.

Schicha, Christian: Politik(er)- und Parteienverdrossenheit? Medien- und politikspezifische Entwicklungen für eine abnehmende Wahlbeteiligung. Online unter: http://www.mediadesign.de/blog/politiker-und-parteienverdrossenheit-medien-und-politikspezifische-entwicklungen-f%C3%BCr-eine-abneh (Zugriff: 18.08.2013).

Schulze, Verena: Parteienverdrossenheit, in: Dossier Parteien. Online unter: http://www.bpb.de/politik/grundfragen/parteien-in-deutschland/42053/parteienverdrossenheit?p=all (Zugriff: 21.07.2013)

Wiesendahl, Elmar: Partizipation und Engagementbereitschaft in Parteien, in: Demokratie in Deutschland 2011 – Ein Report der Friedrich-Ebert-Stiftung. Online unter: http://www.demokratie-deutschland-2011.de/common/pdf/Partizipation_und_Engagementbereitschaft_in_Parteien.pdf (Zugriff: 18.08.2013).

Wiesendahl, Elmar: Volkparteien im Abstieg. Nachruf auf eine Zwiespältige Erfolgsgeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 34/35 1992, S.3-14.

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